Polnische Städte erwarten weitere 5 Mio. Flüchtlinge

Foto: MJN / Twitter

Über 1,43 Mio. Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine haben bereits die Grenze nach Polen überschritten. Die Hilfsbereitschaft eines übergroßen Teils der polnischen Bevölkerung ist nach wie vor groß. Doch es gibt bereits erste Stimmen, die vor gigantischen Problemen des Landes und der Gefahr einer humanitären Katastrophe warnen.
142.300, 141 500 und 117 600 – Das sind die Zahlen der ukrainischen Kriegsflüchtlinge, die allein in den vergangenen drei Tagen über die Grenze nach Polen geströmt sind. Nach Schätzung des polnischen Migrations-Wissenschaftlers Maciej Duszczyk von der Warschauer Universität haben bereits etwa 40 Prozent der nach Polen geflüchteten Ukrainer das Land wieder verlassen oder sind bereits auf den Weg in andere EU-Länder. Es verbleiben aber immer fast eine Million Flüchtlinge in Polen. Einige von ihnen haben in den an den Grenzorten zur Ukraine eingerichteten Notunterkünften Platz gefunden. Der größte Teil wurde jedoch von Privat-Personen, Freunden, Bekannten in privaten Unterkünften aufgenommen. Die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die jetzt an der Grenze zu Polen ankommen, sind allerdings bereits schon Menschen, die keine Kontakte nach Polen oder in die EU haben.
Inzwischen erinnern die Bilder vom Warschauer Zentralbahnhof an die vom Spätsommer 2015 in Budapest. Mit einem wesentlichen Unterschied: Eine Vielzahl von Privat-Personen, Helfer von privaten und nichtstaatlichen Organisationen, Unternehmen und lokalen Behörden leisten aufopferungsvolle Hilfe, kaufen auf eigene Kosten Lebensmittel, Hygiene-Produkte, medizinische Hilfsmittel für die Flüchtlinge. Aus ihren Reihen kommt jetzt zunehmend Kritik an der Regierung, deren einziger Verdienst, wie in Kommentator der ,,Rzeczpospolita“ ironisch schreibt, bisher darin bestand, ,,die Polen nicht bei der Verteilung ihrer Hilfsgaben an die ukrainischen Kriegsflüchtlinge gestört zu haben“. Es wurden weder zentrale Flüchtlings-Aufnahmelager noch große Wohneinrichtungen vorbereitet. Alles wurde den privaten Initiativen überlassen, die jetzt an die Grenzen ihres Leistungsvermögens stossen.
Es herrscht inzwischen ,,Chaos“ , erklärte Warschaus größte private Bürger-Initiative MJN. Die Flüchtlinge im Zentrum von Warschau würden unter schlechten Bedingungen leben, ohne angemessenen Zugang zu Heizung, Wasser, Strom, Toiletten und regelmäßigen Mahlzeiten.
Auch der Verband der polnischen Großstädte UMP appelliert an die Regierung, jetzt schleunigst ein professionelles System zur Aufnahme der Flüchtlinge und ihre Weiterleitung in anderer Landesteile zu organisieren. Die Zeit, da die Hilfe nur vom Herzen kommt, sei vorbei, sagte der Vorsitzende des Städteverbandes, Rafał Trzaskowski, Stadtpräsident von Warschau. Es kommen immer mehr Kriegsflüchtlinge. Der Städteverband rechnet mit weiteren 5 Mio. Flüchtlingen. Um mit dieser gewaltigen Herausforderung müsse sich die Regierung auch professionelle Hilfe vom UN-Flüchtlingshilfswerk und der Europäischen Union holen.
Von den von der Regierung angekündigten 40 Złoty (8,30 Euro) pro Tag an Personen und Einrichtungen, die Ukrainern eine Unterkunft bieten, ist bei den Kommunen noch nichts angekommen, beklagt der Städteverband. Zudem sei der Betrag viel zu niedrig.
Die finanzielle Hilfe ist Bestandteil eines vom polnischen Parlament gebilligten Gesetzes zur Unterstützung der ukrainischen Kriegsflüchtlinge. In dem Gesetz wird den Ukrainern ein Schutzstatus, die Legalisierung ihres Aufenthalts für 18 Monate, der genehmigungsfreie Zugang zum Arbeitsmarkt sowie Sozialleistungen, Bildung und Gesundheit zugesprochen. Die ukrainische Kriegsflüchtlinge sollen hier die gleichen Rechte erhalten wie polnische Bürger. Von den Rechten werden allerdings die Ehepartner von ukrainischen Kriegsflüchtlingen ausgegrenzt, die eine russische Staatsbürgerschaft oder die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes haben. Dies gilt  auch generell für Kriegsflüchtlinge mit anderer Staatsbürgerschaft.
Allein die Kosten für die gesundheitliche Betreuung der Kriegsflüchtlinge werden von der Regierung auf 8 Mrd. Złoty geschätzt. Dieser Schätzung liegt allerdings die Annahme von rund 1 Mio. ukrainischer Kriegsflüchtlinge in Polen zugrunde.
Bei den Kostenschätzung von 8 Mrd. Złoty handelt es sich jedoch nur um einen kleinen Ausschnitt der Kosten, Belastungen und Probleme, mit denen die polnische Gesellschaft zukünftig konfrontiert sein wird.

Die Welle der Hilfsbereitschaft, die Polen gegenwärtig durchzieht, könnte bald zusammenbrechen, warnt der Migrations-Experte Duszczyk. Spätestens dann, wenn die ersten Fragen und Proteste in der polnischen Gesellschaft auftauchen, wenn für die eigenen Kinder die Plätze in den Kinderbetreuungseinrichtungen fehlen, das Schul-System auseinanderplatzt – in Polen sind bereits 250 000 Kinder, den Flüchtlingen die Sozialleistungen wie 500+ zugesprochen werden, oder der Zugang zur eigenen medizinischen Versorgung erschwert ist. Dann tauchen auch die Dämonen der leidvollen, nur in Ansätzen aufgearbeiteten polnisch-ukrainischen Vergangenheit auf, die viele Polen heute noch bewegen.

©  Magda Szulc © infopol.PRESS